Depressionen treten auf unterschiedlichste Arten auf – manche PatientInnen sind von dieser Diagnose überrascht, und finden sich in ihrer Vorstellung von dem, was eine Depression ist, nicht wieder.
So war es auch bei einem meiner Patienten. Sein Hausarzt hatte ihn körperlich durchgecheckt – dabei kam aber nicht heraus, was seine Dauererschöpfung erklären konnte. Er empfahl ihm deshalb psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung.
Das ist keine Depression! Doch, so kann Depression auch sein.
Manche beschreiben den Zustand während der Depression wie unter einer Glaskuppel – sie hören, sehen, fühlen alles weit entfernt und unerreichbar, es berührt sie nichts. Andere merken, dass die Depression wieder im Anmarsch ist, wenn die Gedanken zu kreisen beginnen, wegen Kleinigkeiten große Schuldgefühle auftauchen und Selbstvorwürfe so stark sind, dass sie den Schlaf beeinträchtigen.
Dieser Patient fühlte sich, als hätte er einen Bleimantel an. Jede noch so kleine Aktivität war sehr sehr anstrengend – dieser Zustand hatte sich über Monate verschlechtert. Dazu war er ständig schlecht gelaunt, alles nervte ihn und er hatte zunehmend das Gefühl, von Idioten umzingelt zu sein. Zuerst merkte er in der Arbeit, dass ihn nichts mehr begeisterte. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und sein Durchhaltevermögen, auf das er so stolz war, ging zunehmend verloren.
Am Abend war er so müde, dass er immer seltener Freunde traf oder sich zum Sport aufraffen konnte. Eigentlich interessierte ihn nichts mehr und seine Freunde nervten ihn mit ihrer guten Laune. Seine Freundin war die einzige, die er noch einigermaßen aushielt – und die ihn aushielt. Kurz bevor er zu mir kam, musste er sich krankschreiben lassen, weil er nicht mehr aus dem Bett kam. Für ihn eine extreme Niederlage, etwas das so gar nicht in sein Selbstbild passte.
Und wie bei vielen anderen auch war es für ihn zunehmend unvorstellbar, dass dieser Zustand je wieder weggeht. Das machte alles unendlich sinnlos. Er kam eigentlich nur in Therapie, weil seine Partnerin darauf bestand. Keine ideale Grundvoraussetzung für eine Therapie, aber in seinem Fall zumindest ein Start.
Für ihn war wichtig zu hören, dass Depression nicht zwangsläufig mit Traurigkeit gleichzusetzen ist, dass seine extreme Antriebslosigkeit mit seiner Krankheit zusammenhängt und, dass er nicht einfach „faul geworden“ ist. Und vor allem, dass diese extreme Gereiztheit, schlechte Laune und seine ablehnende Haltung allen anderen gegenüber ein Symptom seiner Depression war.
Reiß dich endlich zusammen!? Nein.
Er war sehr davon überzeugt, dass er sich eigentlich nur zusammenreißen müsse, dann käme die Energie schon wieder. Und er verurteilte sich selbst dafür, dass er das nicht schaffte. Auch seine Sportfreunde rieten ihm kumpelhaft „Reiß dich zsamm, dann wird das schon wieder“. Damit war das „ständige auf dem Sofa Rumhängen“ – wie er es nannte – noch mehr mit Schuldgefühlen verbunden. Er hatte das Gefühl, „nichts auf die Reihe zu kriegen“ und einfach nur „zu schwach“ zu sein und „zu wenig konsequent mit sich selbst“. In Wirklichkeit war „zusammenreißen“ ohnehin das, was er schon seit Wochen tat, während die Depression im Anmarsch war. Und so geht es vielen in der Depression: Sie tun alles, um im Job und in der Familie möglichst lange zu funktionieren. Aber dabei bleibt immer weniger Energie über. Dann werden Aktivitäten weggelassen, die eigentlich gut tun würden, und irgendwann fehlt jede Energie.
Dass Zusammenreißen keine hilfreiche Strategie ist, war erst mal ernüchternd für ihn. So hatte er in seinem bisherigen Leben schwierige Situationen gemeistert. Das machte ihn fürs Erste planlos. Für ihn waren Alternativen gar nicht vorstellbar. Sollte es er einfach hinnehmen, dass er „so ein Loser“ geworden ist?
Ein wichtiger Punkt in einer Therapie: Wenn Lösungswege wegbrechen, müssen gesündere Alternativen gefunden werden. Statt „Reiß dich endlich zusammen“ brauchte er einen freundlichen Umgang mit sich selbst, in dem er den aktuellen Zustand erst mal akzeptiert und dann darauf schaut, was möglich ist und wie kleinste Schritte gelingen können.
Dabei hat ihm vor allem ein Vergleich geholfen: Die Depression ist wie Fieber.
Eine Depression ist wie Fieber.
Es kam uns entgegen, dass seine Freundin Grippe hatte – hohes Fieber, insgesamt 3 Wochen völlig außer Gefecht. Ich fragte ihn, ob er je auf die Idee gekommen ist, ihr – als sie nach einer Woche 40 Grad Fieber, wieder langsam versuchte zu Kräften zu kommen – zu raten, sich zusammenzureißen? Natürlich nicht. Im Gegenteil: er schaffte es in dieser Zeit für sie (und sich) Tee und Hühnersuppe zu kochen. Dieses Bild hat meinem Patienten geholfen, sich erst mal zuzugestehen, dass er jetzt gerade krank ist und dass er um gesund zu werden, Ruhe und Schonung braucht. Und durch das sich um sie Kümmern, gelang es ihm auch nebenbei, sich um sich selbst zu kümmern.
Es ist ein Vergleich. Vergleiche hinken immer. Aber oft sind sie hilfreich, um bestimmte Aspekte besser zu verstehen. Fieber ist ein Zeichen dafür, dass es im Körper ein Problem gibt und es ist die Art des Körpers, gegen dieses Problem vorzugehen. So kann man auch die Depression verstehen: Als deutliches Zeichen, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist und dass es etwas gibt, das nicht abgeschlossen und verarbeitet ist. Bei Fieber ist klar, dass man sich erst mal schonen muss, bis das Fieber vorbei ist und auch danach versteht jeder, dass es erst einige Zeit braucht bis man ganz fit ist. So ist es bei Depressionen auch.
Warum hab ich eine Depression?
Warum hatte er überhaupt eine Depression? Das war für ihn rätselhaft und passte überhaupt nicht in sein Selbstbild. Er hat doch bis jetzt immer alles bewältigt und in letzter Zeit gab es keine Schicksalsschläge. Er sah sich selbst als „harter Knochen“, der alles wegstecken kann. Was konnte ihn so aus der Bahn werfen?
Tatsächlich gibt es nicht die eine Ursache für eine Depression – man geht heute von einer Kombination aus psychosozialen und körperlichen Elementen aus. Auf psychischer Ebene können unterschiedlichste Erfahrungen eine Rolle spielen – von traumatischen Erlebnissen über verschiedene Defizite in der Kindheit über schwere Verluste oder andauernden Stress – es gibt Tausend Einflussfaktoren, und nicht immer sind es offensichtliche Gründe. Auf körperlicher Ebene wissen wir, dass ein Mangel an Botenstoffen im Gehirn – Serotonin und Noradrenalin – seinen Beitrag leistet. Die Trennung der körperlichen und psychischen Ursachen halte ich aber nicht für besonders hilfreich. Denn das eine beeinflusst das andere, es sind zwei Seiten der selben Medaille. Und in der Therapie von Depressionen ist auch eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten am erfolgreichsten. Auch mein Patient hat dann gemeinsam mit seiner Psychiaterin eine Medikation gefunden, die ihm geholfen hat.
Was hilft, wenn nicht zusammenreißen?
Dass diese Medikamente ihm zwar einen ersten Kick gaben, aber nicht allein die Heilung seines Leidens brachten, war eine weitere Frustration, mit der er umgehen musste. Er hatte gehofft, dass alles wieder gut wird, ohne dass er etwas verändern müsste. Auch wenn man sich das manchmal wünscht: Psychotherapie zaubert das Problem auch nicht einfach weg. Psychotherapie ist ein Prozess, bedeutet Bereitschaft zur Veränderung und Mut und Kraft für die Veränderung. Und gleichzeitig hilft sie, genau diesen Mut und diese Kraft zu finden.
Seine Aggression, sein Ärger, seine Wut darauf, dass ihm niemand diese Depression einfach wegmachen konnte, waren dann aber auch die besten Anhaltspunkte für die Psychotherapie. Nach und nach gestand er sich ein, dass es in seiner Kindheit genug Gründe gegeben hatte, wütend zu sein. Und traurig. Diese Wut und später auch die Trauer über das Erlebte eröffneten ihm Stück für Stück Zugang zu seinem Innenleben. Daneben unterstützte das Arbeiten an seiner aktuellen Situation die Fähigkeit, ein Leben zu führen, das ihm entsprach: Was tut ihm gut? Wo sind seine Grenzen? Was will er und was will er auch nicht mehr? Das alles hatte er bis jetzt wenig wahrgenommen.
Für ihn war das ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Besserung: Er kam besser in Kontakt mit sich und seinen Gefühlen und konnte für sich sorgen. Und zunehmend fand er es gar nicht so schlecht, dass er mehr konnte als „durchhalten“ und hart zu sich selber sein. Er hatte für sich verstanden, dass diese Härte die Strategie seiner Kindheit war um sich vor Verletzungen zu schützen und er konnte diese verletzten – bisher extrem abgewerteten – Teile seiner Persönlichkeit besser integrieren. Das war kein leichter Prozess, es gab einige Hochs und Tiefs und ich begleitete ihn noch lange nachdem er wieder arbeitsfähig war.